Kulturbegriff

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Version vom 13. September 2016, 19:48 Uhr von Ne82deh (Diskussion | Beiträge) („Kultur“ – Von der Etymologie des Wortes zu Reziprozitätsdynamiken)
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Die Bedeutung und Definition des Begriffs Kultur ist so vielfältig wie Kultur selbst. Jedes Fachgebiet, von der Biologie über die Kunst bis hin zur Soziologie, hat ein anderes Verständnis davon, was Kultur bedeutet. Auch innerhalb der Disziplinen gibt es zum Teil keine einheitliche Definition. Für die Arbeit mit „Interkulturellem“ ist vor allem aber der lebensweltliche Ansatz relevant. Dennoch, auch hier können unterschiedliche Kulturbegriffe angenommen werden, abhängig von Perspektive und Erkenntnisinteresse. Gemein haben die Begriffsdefinitionen den Gegenstandsbereich von Kultur greifbarer zu machen und dessen Komplexität zu reduzieren. Dies ist unabhängig davon, ob es sich um deskriptive oder normative Ansätze handelt.

Wichtig: Mit Kulturbegriff ist in diesem Artikel eine Perspektive bzw. ein Verständnis darüber gemeint, was Kultur bedeutet. Mit Kulturmodellen hingegen sind in der Regel Metaphern gemeint, die Theorien, Definitionen etc. veranschaulichen.


„Kultur“ – Von der Etymologie des Wortes zu Reziprozitätsdynamiken

Das Wort „Kultur“ stammt vom lat. „cultura“ ab. Das konjugierte Verb „cultum“ (Part. Perf. Pass. von lat. „colere“) hat vier Bedeutungen: 1. Bewohnen, 2. Bewirtschaften, 3. Verehren, 4. Ausbilden. In anderen asiatischen Sprachen oder im bantusprachigen Südafrika ist der Begriff „Kultur“ nicht direkt greifbar, sondern eher prozessorientiert und wird relational verstanden (Kluge 1989, 418). Die in diesem Sinne „colere“ als „Pflege von Beziehungen“ hervorgerufene Relationalität bezieht sich auf vier zentrale Handlungskontexte. „Pflege“ basiert dabei auf Reziprozität (Wechselseitigkeit):

1. bewohnen, ansässig sein → soziale Umwelt (Soziokultur) → Soziale Reziprozität
2. Ackerbau betreiben → natürliche Umwelt (Öko-/Agri-Kultur) → Umweltreziprozität
3. verehren, anbeten → Sinn, Spirituelles („Kult“) → Immaginative Reziprozität
4. veredeln, ausbilden → sich selbst („cultura animi“) → Selbstreziprozität

„Kultur“ ist dementsprechend interpretierbar als Prozess und Resultat der „Pflege von Beziehungen“, was der Etymologie des Kulturbegriffs entsprechend auf dem Zusammenwirken unterschiedlicher Formen von Reziprozität beruht (soziale Reziprozität, Umweltreziprozität, spirituelle/imaginative Reziprozität, Selbstreziprozität).[1] Die Wechseldynamik der vier Reziprozitätsbeziehungen (Reziprozitätsdynamik) kann durch die Synchronisierung von Erfahrungen und Erwartungen konventionalisiert werden (z. B. gemeinsame Regeln, Umgangsformen, Normen etc.).

Enger Kulturbegriff

Unter einem engen Kulturbegriff versteht man Kultur als Hochkultur (z.B. Kunst, Musik, Theater). Kulturell ist also, was physisch oder geistig geschaffen wurde, als ästhetisch oder edel gilt und sich von Alltäglichem abhebt und somit unter anderem einen Gegensatz zur Natur darstellt. Beispiele für diesen Kulturbegriff sind die Verwendung von Ausdrücken wie „Kunst und Kultur“ oder auch der sogenannte Kulturteil der Zeitung.

Erweiterter Kulturbegriff

Ein erweiterter Kulturbegriff versteht Kultur als Lebenswelt anstatt Kultur von Nicht-Kulturabzugrenzen. Tendenziell ist dieses Kulturverständnis daher weniger normativ und weniger starr. Kultur bezieht sich auf das menschliche Zusammenleben und ist somit dynamisch. Der erweiterte Kulturbegriff beschreibt somit keine (bzw. nicht nur) geschaffenen Ideen und Werke, sondern bezieht sich vor allem auf Gruppen bzw. auf zwischenmenschliche Beziehungen.

Dieses Verständis von Kultur lässt sich wiederum in zwei Arten unterteilen, einen offenen und einen geschlossen erweiterten Kulturbegriff.

Geschlossener Kulturbegriff

Wenn Kultur als etwas klar Abgrenzbares – also zugehörig oder nicht zugehörig – gesehen wird, spricht man von einem geschlossenen Kulturbegriff. Kultur ist also homogen und kohärent. Die kulturelle Identität ergibt sich jeweils aus der einfachen Zuordnung zu Kategorien, welche unter anderem räumlicher, sprachlicher, staatlicher oder auch ideeller Natur sein können. Oft wird in diesem Zusammenhang von der Containermetapher[2] gesprochen, da man durch diese zweiwertige Logik entweder drinnen oder draußen ist, dazugehört oder nicht. Entweder-oder.

Offener Kulturbegriff

Definiert man Kultur vor allem über zwischenmenschliche Beziehungen und konventionalisierte Reziprozitätsdynamiken (also alles, was eine Gruppe von Menschen als normal, relevant und plausibel gesehen wird), so lassen sie sich nicht mehr klar voneinander abgrenzen (keine Container). Stattdessen handelt es sich eher um mehr oder weniger offene Netzwerke, welche an ihren Rändern unscharf werden und sich mit anderen Netzwerken zum Teil überschneiden (Fuzzines). Diese Perspektive erlaubt plurale Identitäten durch Beziehungen zu unterschiedlichen Kollektiven.[3]

Verständnis Geschlossener Kulturbegriff Offener Kulturbegriff
Definition von Kultur durch Kohärenz Kohäsion
Fokus auf Strukturen (Container ) Prozesse (Beziehungen, Netzwerke)
Perspektive Statisch Dynamisch
Vielfalt Homogenität Heterogenität
Zuordnungslogik Zweiwertig Mehrwertig
Zugehörigkeit Entweder oder Sowohl als auch
Beziehung zum Begriff Kultur haben Kultur sein

Fuzzy Cultures

In einem mehrwertigen Verständnis von Kultur, kann kulturelle Identität nicht als klar abgrenzbare homogene Einheit betrachtet werden. Sie konstruiert und konstituiert sich insbesondere über Reziprozitätsbeziehungen ihrer Akteure in einem offenen Netzwerk, also durch Beziehungen. Dieses Netzwerk kann an den Rändern je nach Perspektive und Grad des Zooms (Mikro-, Meso-, Makroebene) unscharf bzw. „fuzzy“ erscheinen[4], da Kulturen nicht nur relational sind, sondern auch relativ gebunden an die Blickrichtung und den Blickwinkel ihrer Akteure.[5] Aufgrund dieser Unschärfe oder „Fuzziness“ beschreiben „soziale Zusammenhänge, Kohäsion und Kollektive“[6] kulturelle Identität(-en) adäquater als vermeintlich homogene nationalkulturelle Zuschreibungen.

Relationalität und Kollektivität

Als perspektivenabhängiges offenes Netzwerk konventionalisierter Reziprozitätsdynamiken sind Kulturen sowohl prozess- als auch strukturbasiert. Sie verhalten sich polyrelational zu den vier Reziprozitätsdynamiken (Selbst-, Umwelt-, imaginative und soziale Reziprozität). Dabei sind die jeweiligen Akteure stets multirelational, d. h. sie haben Beziehungen zu verschiedenen Akteursfeldern. Daher setzen sich die Netzwerke (die „Kultur“) aus diversen, kohäsiv miteinander verflochtenen Kollektiven zusammen. Als vielschichtig-heterogene Netzwerke sind sie durch Polykollektivität[7] charakterisiert. Jede(r) Einzelne ist wiederum Mitglied unterschiedlicher Lebenswelten und somit durch Multikollektivität gekennzeichnet.[8] Ein Kohärenzanspruch für Kollektive bleibt aus Sicht der Kollektivitätstheorie jedoch bestehen, da neben der Prozess- auch eine Strukturorientierung des Netzwerks erfolgt.[9]

Kultur neu denken: der holistische Kulturbegriff

Der holistische Kulturbegriff umfasst sowohl den engen als auch die erweiterten Kulturbegriffe. Dabei schließt er jedoch deren Gültigkeiten nicht gegeneinander aus. Sowohl zweiwertige Logiken des geschlossenen Kulturbegriffs (Containerdenken) als auch mehrwertige Logiken des offenen Kulturbegriffs haben in einem kombinierten Kulturbegriff ihren Platz. Daher gilt für den kombinierten Kulturbegriff:

Sowohl entweder oder als auch sowohl als auch

Was bedeutet dies für die Dynamik der Wechselwirkungen? Die bevorzugten Reziprozitätsdynamiken des engen Kulturbegriffs (Selbst- und imaginative Reziprozität) werden zwar im erweiterten Kulturbegriff aufgenommen, stehen jedoch den Facetten der Sozioreziprozität zumeist nach. Die vierte Reziprozitätsdynamik, die Umweltreziprozität, wird selbst im offenen Kulturbegriff häufig als zweiwertig betrachtet. Kultur vs. Natur.

Im kombinierten Kulturbegriff sind alle vier Reziprozitätsdynamiken (Selbst-, Imaginativ, Sozio- und Umweltreziprozität) interdependent und beschreiben die Kultur als holistische, netzwerkfähige Lebenswelt. Je nach Akteursfeld wird einzelnen Reziprozitätsdynamiken mehr oder weniger Bedeutung beigemessen.

  1. vgl. Bolten 2009, Stegbauer 2010, S. 115
  2. Beck 1998
  3. vgl. Sen 2007
  4. Bolten 2009
  5. vgl. Mandelbrot & Hudson 2007
  6. Conrad & Eckert 2007, S. 18
  7. Hansen 2009
  8. Hansen 2009
  9. Rathje 2009